Junges Gemüse

Junges Gemüse Text: Karin Lochner Fotos: Peter von Felbert

Harald Gassers Gemüse hat Schönheitsfehler und ist teuer. Im Supermarkt werden seine Produkte nie zu finden sein. Seine Produkte haben trotzdem einen legendären Ruf: wegen ihres intensiven Aromas. Seine Abnehmer sind Spitzenköche in Südtirol, Österreich und Deutschland, die sich um sein junges Gemüse reißen

Ein Besuch bei Harald Gasser ist deshalb Pflicht für unsere kulinarische Reise durch Südtirol. In vielen Gasthäusern steht sein eingelegtes Erntegut auf den Fensterbrettern: Rüben, Karotten und Bete in kräftigen Farben. Sie sind einerseits Dekoration für die Gaststube, andererseits „eiserne Reserve“ für die Arbeit am Herd. Über das eingeweckte Gemüse ergeben sich außerdem immer wieder Gespräche – mit anderen Gästen, mit den Kellnerinnen und den Köchen. Nein, wir wussten nicht, dass es violette Karotten gibt. Oder wie abwechslungsreich die Formen von Rüben sein können.

Wie viele Kurven noch? Die Straßen sind eng. Sind wir überhaupt richtig? Ich kurble das Fenster herunter und frage nach dem Weg. Obwohl es Februar ist, weht der typische Wind herein, ein Geruch, den wir mit Südtirol verbinden, seit wir an diesem Buch arbeiten. Nach Wiesen, nach Wald, nach Kuhmist. In dieser kalten Jahreszeit begegnen uns keine anderen Touristen. Dennoch präsentiert sich uns der ganze Zauber Italiens nördlichster Provinz. Er offenbart sich gerade in dieser kargen Stimmung. Nicht so offensichtlich wie im Frühling, wenn die Knospen sprießen, oder im Sommer, wenn das Land im Sonnenlicht leuchtet. Die Schönheit ist nun stiller, geheimnisvoller, lässt uns tiefer atmen und innehalten.

Als wir in der Ortschaft Barbian bei Harald Gasser ankommen, bewundern wir erst einmal die atemberaubende Aussicht von Gassers Elternhaus, dem Aspingerhof. Der schlanke, drahtige Landwirt kommt mit federnden Schritten auf uns zu. Er hat raspelkurze Haare und leuchtend blaue Augen, mit denen er in den Horizont blinzelt. Keine Wolke ist zu sehen. Er wird trotzdem nicht gießen. Das macht er nie. Auf seine eigenwillige Art kreiert er eine ungeahnte Aromenvielfalt.

Das Gemüsefeld am Aspingerhof sieht eher aus wie ein Gemüsedschungel. Das ist gewollt. Harald ist ein Verfechter der koordinierten Mischkultur und beobachtet, welche Pflanzen gut nebeneinander gedeihen. Inspiration holt er sich von der sogenannten „Permakultur“, die darauf basiert, natürliche Ökosysteme und Kreisläufe in der Natur genau zu beobachten und nachzuahmen. Was er auf 1000 Metern Höhe kultiviert, nennt Gasser „gemischte Pflanzengemeinschaften“. Von nur 30 Pflanzen ernährt sich die Menschheit in Industrieländern im Allgemeinen, Gasser hingegen pflanzt mehr als 800 Gemüsesorten an. Raritäten wie den Senfkohl, den fliegenden Rettich, Erdmandeln, Glückskleerübchen, Wassersellerie, Exoten wie ägyptischen Sauerampfer, Erdbeerspinat, chinesischen Knoblauch, Levkojen und mexikanische Minigurken.

Als wir den Acker betreten, fragen wir ihn, wie er hier den Überblick behalten kann. Harald winkt lachend ab und meint, dass er genau diese Vielfalt liebt und er jede einzelne Pflanze noch im Halbschlaf erkenne. Unkraut gebe es außerdem nicht. Alles sei nützlich.

Die meisten Landwirtsbetrieben ernten im Herbst die Felder ab und hinterlassen brachliegende Flächen. Nicht so auf dem Aspingerhof. Hier bleibt alles stehen. Das ist gut für den Boden, denn die Mikroorganismen verwandeln die abgestorbenen Pflanzenteile in wertvollen Humus und sind zudem ein Ideals Versteck für Insekten und Kleintiere, die Unterschlupf in den Stängeln oder vertrockneten Blüten finden. „Ein Insektenhotel, ach was, eine Insektenstadt!“, begeistert sich Harald. In den Artischocken überwintern Marienkäfer. Wenn im Frühjahr Läuse auftreten, seien ihre natürlichen Fressfeinde sofort einsatzbereit, freut sich der Landwirt. Alle paar Meter bleiben wir stehen und Harald erklärt uns, was wo wächst und wie es am besten angebaut und gepflegt wird. „Es dauert manchmal Jahre, bis ich eine Pflanze wirklich verstanden habe, sie in größeren Mengen verkaufen kann. Das macht den Reiz für mich aus.“ 

Aufbruchstimmung an Aromen

Harald reibt sich die Hände. Bald ist es wieder soweit. Im Frühling, erklärt er, muss er die Pflanzen erziehen, ihnen Stress zumuten, damit sie tiefe Wurzeln bilden. So werden sie robuster, speichern mehr Nährstoffe und werden aromatischer. Diese Mehrarbeit gibt er seinen Sämlingen, indem er sie an einem geschützten Platz im Freien keimen lässt, sobald das Thermometer tagsüber mehr als vier Grad zeigt. Dadurch wachsen sie zwar langsamer, aber sie werden stark und gewöhnen sich an Kälte. Wenn er sie dann Mitte Mai in die Erde pflanzt, gedeihen sie prächtig.

Seine Wirkungsstätte hätten wir uns allerdings viel größer vorgestellt. Harald bewirtschaftet nur einen halben Hektar. Allein acht verschiedene Zwiebelsorten hat er auf vergleichsweise engem Raum angepflanzt. Aber die Größe des Ackers sei nicht ausschlaggebend: „Meine effektiven Erträge pro Quadratmeter sind höher als in der herkömmlichen Monokultur. Wenn einige Sorten nicht aufgehen, habe ich andere, die meine Ernteerträge ausgleichen. Meine durchdachte Fruchtfolge lässt mich auf meiner kleinen Fläche relativ viel ernten.“ Ob wir wüssten, wie vielfältig Zwiebeln sind? „Unterschätzt, dabei die reinste Aufbruchstimmung an Aromen.“ Auch 22 unterschiedliche Blattsalate wie Rapunzel, Hirschhornwegerich und Erdnussrucola hat Harald im Repertoire. Er baut sogar noch im Spätherbst Asiasalate an, die er im Winter erntet: Sie halten bis 15 Minusgrade aus. Unglaubliche 14 unterschiedliche Arten von gelben Rüben gibt es hier, darunter das Ochsenherz, eine kreiselförmige, hellorange, süße Frühkarotte. Er lacht: „Jawohl, nicht nur bei Tomaten gibt es Ochsenherzen!“

Siegel und Zertifikate sind ihm nicht wichtig

Alles, was Harald zum Verkauf anbietet „ist bio, aber nicht mehr offiziell zertifiziert“. Früher gehörte sein Hof zu einem Bioverband. Da er mit seiner Mischkultur und Sortenvielfalt ein eigenwilliges Regiment führte, passte er aber nicht so recht ins Kontrollschema. „Irgendwann hat mir das ganze Procedere nicht mehr behagt.“ Für Harald geht es immer noch besser und natürlicher. Seine Experimente leisten ihm größere Dienste als Kontrollen von außen. Siegel und Zertifikate sind ihm nicht wichtig.

Er liebt es etwa, auszuprobieren, wie „Pflanzenfeinde“ aufeinander reagieren. Und ob sie durch diese Konkurrenz sogar voneinander profitieren: „Ich pflanze beispielsweise Mangold und Sellerie nebeneinander an. Die bekämpfen sich. Die Knollen des Sellerie werden dabei stärker, während der Mangold klein bleibt. Als Minimangold ist er geschmacklich sogar besser. Und optisch macht er sich in der Spitzengastronomie auch richtig gut.“

Die Arbeit mit der Erde erdet

Alle anfallenden Arbeiten macht Harald mit der Hand. Wie man mit Sichel und Dreschflegel umgeht, hat ihm sein Vater beigebracht. Zupackende Hände hat er, das sieht man gleich. „Keine Maschine könnte hier das Säen, Jäten und Ernten erledigen“, sagt er. Seit einigen Jahren hat er mehr als genug Abnehmer für seine Ware. Das war nicht immer so. Harald machte eine Ausbildung zum Sozialbetreuer und kümmerte sich um straffällige Jugendliche. Als Ausgleich zu seinem emotional anstrengenden Job startete er auf einem Minibeet am Hof seiner Eltern mit Gemüseraritäten: „Die Arbeit mit der Erde erdet.“ Genau das brauchte er damals, denn er stand kurz vor einem Burnout.

Bei Arche Noah, dem Verein für Erhalt und Entwicklung der Kulturpflanzenvielfalt, bestellte er Saatgut von knapp 200 alten Gemüsesorten. Auf 16 Quadratmetern steckte er dann die Samen von fast verschwundenen Sorten in die Erde. Oft kam er nur nachts mit Stirnlampe ans Beet, so eingespannt war er tagsüber. Die Eltern, Nebenerwerbsbauern mit fünf Milchkühen, brachten ihre Erfahrung – im wahren Wortsinn – mit ins Feld. „Du musst mehr gießen“, empfahl seine Mutter. „Du musst spritzen“, versuchte ihn sein Vater zu überreden. Gasser Junior verweigerte beides vehement. Er war schon damals überzeugt: Wenn Pflanzen „in ihrer Jugend“ wenig gegossen werden, bilden sie tiefere Wurzeln und holen sich genug Mineralien aus dem Boden. Und ungespritztes Gemüse schmeckt einfach besser. 

Nach und nach baute Harald immer mehr an, entdeckte seinen grünen Daumen. 2007 erhielt er eine offizielle Beratung vom Landwirtschaftsamt zum Thema Existenzgründung. Wieder hörte er: Düngen müsse er und spritzen. Niemals, sagte er und kündigte kurz darauf seinen Job im Sozialwesen. Eine Entscheidung, die er nie bereut hat. Das einzige Problem: „Jetzt habe ich kein Hobby mehr!“ Dafür wurde nun das Experimentieren mit unbekannten Sorten, mit Raritäten und Exoten zu seiner Freizeitbeschäftigung. Bei den Pastinaken stellte er etwa fest, dass sie im Winter „scharf“ schmecken. Erst nach der Lagerung bis Ostern entfalten sie ihr wahres Aroma. Die Hammelmöhren, wie Pastinaken im Volksmund genannt werden, seien deshalb das perfekte Fastengemüse. Solche Erkenntnisse sind auch für die Köche wertvoll, die ihm sein Erntegut abnehmen.

Beim Abschied schenkt Harald uns Sprossen von Winterrüben, die er als eine der gesündesten Mineralienquellen unserer Breitengrade lobt. Diese Sprossen gehören zu den wenigen Produkten, die bei ihm nicht auf dem Feld wachsen, sondern im Schuppen, gleich neben dem Fass mit dem eingelegten Sauerkraut. Hier, in der feuchten Dunkelheit, herrschen ideale Wachstumsbedingungen, damit die Sprossen immer wieder erneut keimen. Er zupft Kostproben ab: „Bitte ordentlich beißen.“ Wir kauen vorsichtig. Ein pfefferiger Geschmack entfaltet sich in der Mundhöhle. Wir können uns gut vorstellen, wie man mit diesen kleinen Geschmacksfeuerwerken früher das oft karge Essen im Winter aufgepeppt hat. Dann pflückt uns Harald so viele Sprossen von den Rüben, dass unser Vitamin- und Mineralienbedarf bestimmt für eine Woche gedeckt ist.