Er ist klein. Aber er will großes. Nepomuk ist vier und will endlich einen Gipfel besteigen. Das möchte er schon eine ganze Weile, genaugenommen sein halbes Leben lang, aber bisher scheiterte das Vorhaben entweder an den äußeren Bedingungen oder seinen knallharten Vorgaben: Mit Besteigen meine er Besteigen, aber nicht Hinaufgetragen-werden. Hätte er gesagt, wenn er es denn mit zwei schon so hätte formulieren können. Heute kann er es. Und auf die Frage welchen Gipfel denn, kam prompt: „Den höchsten. Natürlich.“ Das „natürlich“ betonte er dabei so, als würde er routiniert auf eine der vielen Suggestivfragen antworten, die man den Kindern häufig stellt. „Ein Gipfel mit Kreuz und Felsen und ganz weit oben.“
Solche Gipfel gibt es bei uns in den Bayerischen Voralpen Gottseidank einige. Und vor zwei Jahren hatte sich bereits sein Vater erweichen lassen, marschierte mit dem Winzling gen Wildalpjoch. Der ersehnte Gipfel war schon in Sicht, es blieb nur noch ein Schneefeld zu queren. Flinken Fußes stapfte klein Nepomuk über den gefrorenen Firn. Der Vater aber versank erst bis zur Hüfte und schließlich bis zur Brust im Schnee. Es müssen sich dramatische Szenen abgespielt haben. Piz Palü gleich Ponyhof dagegen. Auch viele heiße Tränen halfen nichts. Die Seilschaft musste kurz vor dem Ziel umkehren. Noch heute sagt der kleine Alpinist mit dramatischer Wehmut in der Stimme: „Er konnte nicht weiter. Er war einfach zu schwer.“
Der höchste Gipfel ist bei uns mit 1884m über Normalnull die Rotwand, damit höchster Berg im Spitzingseegebiet und im bayerischen Teil des Mangfallgebirges. Baumlos ragen ihre schartigen Felszähne in die oberbayerische Troposphäre. Die Besteigung ist für einen erwachsenen Menschen mit normaler Konstitution und angemessener Ausrüstung unproblematisch, aber erfüllend. Exakt anstrengend genug, dass man das Gipfelerlebnis im rechten Maß und in Demut genießen kann. Unser Berg der Wahl.
Ich schaffe es Nepomuk davon zu überzeugen, dass wir den ersten, „den langweiligen, einfachen Teil“, per Seilbahn erledigen, um dann von der Bergstation am Taubenstein aus unsere Gipfeltour hinüber auf die Rotwand zu starten. „Dann aber zu Fuß und mit Bergsteigen.“, fordert er.
Als der Weg gleich nach der Seilbahn steil und felsig wird und jeder Mensch mit einem gesunden Selbsterhaltungstrieb anhand des gefährlich abschüssigen Geländes ringsum erkennt, dass ein Sturz rasch Schlimmeres als ein aufgeschürftes Knie zur Folge haben kann, zeige ich ihm, wie das geht: Das Bergsteigen. So, wie ich es damals im selben Alter von meiner Berg-Oma gelernt habe. Kleine Schritte machen, Kraft sparen. Beim Gehen die Augen wachsam auf den Boden richten und wie bei einem Suchspiel gewissenhaft den nächsten sicheren Tritt auswählen. Und wenn man sich umschauen will: Stehenbleiben. Es geht nicht ums Erstersein. Sondern ums Ankommen. Und darum, dass man vom Gipfel aus eigener, aufgespartet Kraft auch wieder hinunterkommt.
Er hört mir aufmerksam zu, aufmerksamer als erwartet. Hier am Berg, das ist kein Larifari, das spürt er. Er merkt auch: Er hat Verantwortung für sich selbst. Verantwortung, die ich ihm nicht aufhalse, sondern zutraue. Gewissenhaft setzt er an den entscheidenden Stellen bedächtig einen Fuß vor den anderen, langsam aber konstant kommen wir voran.
„Warum heißt denn die Rotwand Rotwand?“, fragt er mich. Bevor ich ihm antworten kann, deutet er auf die Felsen und konstatiert: „Weil sie rote Flecken hat, ich seh‘ schon.“ Ich grinse, nicke und bin still. Wo er Recht hat, hat er Recht.
Als er merkt, dass seine Beine schwerer werden, bittet er mich, ob ich ein bisschen schieben könne. Nach etwa Dreiviertel der Strecke wird er müde. Wir rasten und als er sich still ins Gras legt, den Kopf auf einen flachen Findling gebettet, regen sich in mir erste Zweifel. Ich denke an den Rückweg und frage ihn vorsichtig, ob wir umdrehen sollen. Wir wären ja schon so weit gekommen. Fassungslos blickt er mich an, Tränen steigen ihm in die Augen. „Aber wir waren noch nicht am Gipfel…“. Ich sehe es ein. Egal was kommt. Heute müssen wir hinauf. Für ein kurzes Stück, nehme ich ihn auf die Schultern. „Gilt das dann noch, Mama?“ „Bestimmt, Nepomuk.“
Als wir schließlich über den Rotwandsattel kommen und der Gipfel zu sehen ist, gibt es für ihn kein Halten mehr. Er windet sich von meinen Schultern und ich muss ihn zur Langsamkeit mahnen, so besessen haxelt er los. Das ganze letzte Stück zieht er mich quasi an der Hand hinter sich her.
Und dann sind wir dort: auf seinem ersten Gipfel. Auf 1884m Gestein stehen 98 cm inkarnierter Stolz. Krähend vor Freude. In alle Richtungen deutend. Das morsche Holz des Gipfelkreuzes umarmend. Den Abdruck des Stempels, den wir in einer kleinen Box am Kruzifix finden, trägt er wie ein wertvolles Abzeichen auf seinem kleinen Handrücken. „Händewaschen wird die nächsten Tage wohl zum Problem…“, denke ich mir noch, als er sich plötzlich an mein Bein klammert. Er hat einer Bergdohle nachgeschaut wie sie den Abgrund hinab ins Tal durchmaß. Und da war sie, die Demut am Berg. Jetzt kennt er sie auch. Ich nehme ihn auf den Arm und gemeinsam schauen wir in die Runde, fühlen uns zur gleichen Zeit als die Größten und die Kleinsten, angesichts der Weite der Welt. Wir zählen die verschiedenen Blautöne der bis zum Horizont gestaffelten Bergketten, suchen den rot-weiß geringelten Sendemast auf dem Wendelstein, lachen über die seltsamen Namen der Berge (Olperer, Schinder, Unnütz, Risserkogel), füttern die frechen Dohlen mit Kürbiskernen und genießen unser Gipfelglück, bis der kleine Muk auf einmal seinen Zeigefinder in meine Wange bohrt und mir ins Ohr flüstert: „Jetzt gehen wir hinunter. Dann können wir morgen wieder raufsteigen.“
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